Stabilität - von Anfang an

Die Geschichte der gesetzlichen Unfallversicherung - ein Rückblick (Teil 1)

Portrait von Reichskanzler von Bismarck

Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898)

Mit der Gründung einer Versicherung gegen Arbeitsunfälle und - in einem zweiten Schritt - auch gegen Berufskrankheiten betrat Deutschland im Jahr 1885 Neuland. Die gesetzliche Unfallversicherung erwies sich als erstaunlich belastbare Institution, die selbst in turbulenten Zeiten ihren gesetzlichen Auftrag erfüllt.

Kaiserreich und industrielle Revolution

Die Geschichte der gesetzlichen Unfallversicherung beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rasant verändert die Industrialisierung das ehemals landwirtschaftlich geprägte Land. Fabriken schießen förmlich aus dem Boden. Einerseits bieten sie neue Arbeitsplätze und die werden aufgrund des Bevölkerungswachstums auch dringend gebraucht. Gleichzeitig verändern sie aber auch die bestehende Sozialordnung. Immer mehr Menschen wandern aus Landwirtschaft und Handwerk ab und verdingen sich als Arbeiter in den Fabriken. Dort haben sie zunächst  kaum Rechte: Die Löhne sind gering, die Arbeitszeiten lang, die Arbeitsbedingungen oft katastrophal. Ein Bericht des Pädagogen Adolph  Diesterweg (1790 - 1866) über die Kinderarbeit in Textilfabriken vermittelt einen Eindruck von den damals herrschenden Verhältnissen:

"… nach kurzer Zeit spinnt, spult, klopft und hämmert es maschinenmäßig fort, von Minute zu Minute und von Stunde zu Stunde, bis die Mittagglocke die Arbeiter eine Stunde entlässt. Das Kind eilt nach Hause, verzehrt sein mageres Mittagsbrot, wandert um 1 Uhr wieder seinem Kerker zu (…) und setzt seine Thätigkeit von Minute zu Minute und Stunde zu Stunde, bis 7 oder 8 Uhr am Abend fort." (Kampf für eine bessere Arbeitswelt. Die Geschichte des Arbeitsschutzes, Hg: DASA, Dortmund, 2003, S. 11)

In Folge dieser schlechten, ungesicherten Arbeitsbedingungen erreicht die Zahl der Arbeitsunfälle schwindelerregende Höhen. Die wenigen "Fabrikinspektoren“ - Vorgänger der Gewerbeaufsicht - , die es seit 1854 gibt, können den Mängeln kaum Einhalt gebieten.

Erleidet ein Arbeiter einen Unfall, hat er keinerlei Absicherung: Auf ihn wartet oft nur noch Kündigung und Armut. Auch das 1871 erlassene Haftpflichtgesetz für Unternehmer ändert daran wenig. Denn die verunfallten Arbeiter müssen ihrem Arbeitgeber ein schuldhaftes Verhalten nachweisen. Für die meisten ist das schon allein aus finanziellen Gründen eine unmöglich zu erfüllende Bedingung.

Die elenden Lebensbedingungen einer rasch wachsenden Arbeiterschaft werden zur beherrschenden sozialen Frage der Zeit. Lange zieht der Staat sich auf die Position zurück, dass der Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine privatrechtliche Angelegenheit sei. Doch aus unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft werden Forderungen laut, die ungesicherte Existenz der Arbeiter nicht länger hinzunehmen und sie in einer "Arbeiterversicherung“ abzusichern. Reichskanzler Otto von Bismarck ist sich des Handlungsbedarfs wohl bewusst: "Verfällt er (der Arbeiter) aber der Armut auch nur durch eine längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eignen Kräften vollständig hilflos und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat.“ (Heinrich Braun, Industrialisierung und Sozialpolitik in Deutschland, Köln/Berlin, 1956, S.76)

Bismarck favorisiert eine öffentlich-rechtliche Unfallversicherung, die den Betroffenen unabhängig von der Verschuldensfrage entschädigt. Die Kosten sollen nach seinen Vorstellungen allein die Arbeitgeber und der Staat tragen. Viele Unternehmer fürchten steigende Kosten, einige aber, wie der Stahlindustrielle Louis Baare weisen darauf hin, dass eine wachsende Industrie auf zufriedene und gesunde Arbeiter angewiesen ist.

Bismarck erhofft sich jedoch noch einen ganz anderen  Gewinn. Jenseits des Sozialistengesetzes "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ sucht er nach einem Mittel, die soziale Frage zu entspannen. Er will die unzufriedenen Arbeiter mit dem Staat versöhnen und weiterem Aufruhr zuvorkommen. Diese Überlegung wird auch in der "Kaiserlichen Botschaft“, mit der Kaiser Wilhelm I. 1881 die Sozialversicherung begründet, deutlich: "Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen ist.“