"Gewalt ist nicht normal"

Das Portrait zeigt Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV.

Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV
Bild: Jan Röhl / DGUV

Anfang Dezember starten Berufsgenossenschaften und Unfallkassen die Kampagne #GewaltAngehen. Wir sprachen mit dem Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Dr. Stefan Hussy, über die Hintergründe.

Herr Dr. Hussy, Berufsgenossenschaften und Unfallkassen starten zum Jahresende eine Kampagne gegen Gewalt gegen Einsatzkräfte. Warum ist Gewalt für die gesetzliche Unfallversicherung eigentlich ein Thema?

Gewalt ist für uns ein Thema, weil Gewalt auch eine Ursache für Arbeitsunfälle ist. Wer bei der Arbeit oder im Einsatz bedroht oder angegriffen wird, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Kommt das denn häufig vor?

Kommt darauf an, was Sie unter "häufig" verstehen. 2022 hatten wir rund 790.000 meldepflichtige Arbeitsunfälle. Etwas mehr als 13.000 davon waren gewaltbedingt. Mit anderen Worten: Von rund 60 Arbeitsunfällen ist einer die Folge von Gewalt. Um die 100 dieser gewaltbedingten Unfälle wiederum entfallen auf Versicherte, die ehrenamtlich oder hauptberuflich bei der Feuerwehr, im Katastrophenschutz oder beim Kranken- oder Rettungstransport tätig sind.

Das klingt erst mal nicht viel.

Wenn Sie mich fragen, ist schon ein einziger Angriff auf einen Menschen, der anderen helfen will, ein Vorfall zu viel und absolut nicht hinnehmbar. Hinzufügen muss ich aber auch: Unsere Statistik zeigt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Dazu muss man drei Dinge wissen: Erstens, ein Arbeitsunfall ist nur dann meldepflichtig, wenn er zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder zum Tod führt. Zweitens, Beamte sind in unseren Statistiken nicht enthalten. Und drittens, verbale Gewalt – zum Beispiel Beleidigungen und Bedrohungen – sowie Angriffe, die zu leichten Verletzungen führen, sehen wir in unseren Statistiken auch nicht. Sie sind aber da und sie sind belastend.

Können Sie denn abschätzen, wie groß die Zahl dieser nicht-meldepflichtigen Unfälle ist?

Nicht direkt. Aus einer Umfrage der Feuerwehr-Unfallkasse Niedersachsen unter ehrenamtlichen Feuerwehrleuten wissen wir, dass insbesondere verbale Gewalt nicht selten ist. Rund ein Drittel der Feuerwehrleute, die sich an der Umfrage beteiligt haben, hat angegeben, in den letzten zwei Jahren Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen oder – selten – körperliche Gewalt erlebt zu haben.

Beleidigungen oder Beschimpfungen – muss man so etwas nicht aushalten können in bestimmten Berufen?

Nein. Gewalt mag in manchen Berufen Teil des Alltags sein, aber deswegen darf sie noch lange nicht als normal hingenommen werden. Im Gegenteil: Gewalt zu erfahren ist eine extreme Belastung für die Betroffenen. Sie verunsichert – nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Kolleginnen und Kollegen. Und wer Angst hat, kann sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, ist gestresst und trägt im schlimmsten Fall auch noch dazu bei, dass Konflikte eskalieren. Auch deswegen machen wir #GewaltAngehen: Die stillschweigende Akzeptanz von Gewalt ist nämlich ein Teil des Problems.

Was ist die Folge, wenn man Gewalt nicht anspricht?

Wenn an Arbeitsplätzen – und auch im Ehrenamt – nicht über Gewalt gesprochen wird, wenn Gewaltvorfälle nicht ernst genommen werden, dann wird auch nichts dagegen unternommen. Dann kann die Führungskraft nicht schauen, ob man dem Problem nicht vielleicht mit organisatorischen Veränderungen beikommen kann. Dann kommt der Einsatzleiter vielleicht nicht auf die Idee, seine Leute mal zu einem Deeskalationstraining zu schicken. Zum Glück haben wir in den letzten Jahren gesehen, dass sich hier schon einiges gewandelt hat. Das wollen wir mit unserer Kampagne fördern: eine Kultur in Unternehmen, Organisationen und Bildungseinrichtungen, die Gewalt klar die "rote Karte" zeigt.

Was erhoffen Sie sich noch von #GewaltAngehen?

Die Menschen, die als Fürsprecher für unsere Kampagne auftreten, sprechen mir aus dem Herzen – und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich hoffe, dass sie mit ihrem Engagement den einen oder anderen zum Nachdenken bringen, und er sich im entscheidenden Moment zusammenreißen kann. Außerdem hoffe ich darauf, dass Unternehmen und Organisationen sich mehr mit dem Thema auseinandersetzen und ihre Beschäftigten ermutigen, Gewaltvorfälle zur Sprache zu bringen. Dazu stellen wir auf der Website der Kampagne auch Informationen über unsere Unterstützungsangebote bereit. Und ich erhoffe mir mehr Respekt und Zivilcourage von der Bevölkerung. Jeder der Zeuge oder Zeugin von Gewalt wird, kann etwas tun – zum Beispiel bei der Polizei anrufen. Es geht uns alle etwas an, wenn man Rettungskräfte angeht.