Im Interview mit Thorsten Uhle: "Wir müssen die richtigen Fragen stellen und gut zuhören"

Thorsten Uhle ist Globaler HSE-Manager mit dem Schwerpunkt Occupational Health bei der Bayer AG.
Bild: Thorsten Uhle

Seit 2013 verpflichtet das Arbeitsschutzgesetz Unternehmen, eine Gefährdungsbeurteilung auch für psychische Belastungen durchzuführen. Doch nur weniger als acht Prozent der deutschen Unternehmen setzen die Beurteilung gemäß den gesetzlichen Vorgaben um. Ein möglicher Grund: Das Thema "Psyche" ist schwer zu fassen. Die Prozesse sind komplex und erfordern eine offene Gesprächskultur im Unternehmen. Die Bayer AG hat hierfür ein Tool mit einem systematischen und zugleich spielerischen Ansatz entwickelt. DGUV Kompakt sprach darüber mit Thorsten Uhle, Psychologe und globaler HSE-Manager mit dem Schwerpunkt Occupational Health bei der Bayer AG.

Herr Uhle, die Betrachtung psychischer Belastungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung ist bei der Bayer AG Teil eines größeren Prozesses zur Förderung von Sicherheit und Gesundheit. Wie gehen Sie dabei vor?

Wir führen schon seit vielen Jahren einen erfolgreichen Gesundheitsdialog mit unseren Beschäftigten in Deutschland: Dabei stellen wir regelmäßig mit einem von mir entwickelten Tool Fragen. Die Beschäftigten antworten und erarbeiten in Gesundheitszirkeln Ideen für Maßnahmen, die bis zur nächsten Befragung umgesetzt werden. Diese etablierte Methodik haben wir um die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung erweitert. Wir sprechen jetzt von einem Occupational-Health-and-SafetyDialog, dem sogenannten OHS-Dialog. Ziel ist es, mit diesem Dialog schnell und effizient den aktuellen Stand bei den Beschäftigten zu ermitteln, um auf dieser Basis partizipativ Maßnahmen abzuleiten.

Durch die Pandemie ergeben sich andere Belastungen als üblich. Zudem arbeiten viele Beschäftigte von zu Hause aus. Wie erreichen Sie diese?

Neben all den großen Herausforderungen und Belastungen, die das inzwischen alltägliche ‚Corona Business‘ mit sich bringt, wurden sehr schnell alte Arbeitsweisen und Organisationsformen in Frage gestellt und den neuen Bedingungen angepasst. So erleben vor allem digitale Lösungen großen ‚Auftrieb‘. Konkret zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung: Die Grobanalyse erfolgt digital oder als Paper-Pencil-Version. Die Feinanalyse wurde bis dato als klassischer Workshop angeboten. Aktuell entwickeln wir auch hier eine digitale Variante. So modern und chic digitale Lösungen sind, gerade bei den Themen Gesundheit und Sicherheit geht es auch um persönliche Nähe und Vertrauen. Daher soll beispielsweise der digitale Feinanalyse-Workshop in geschlossenen Videochat-Räumen stattfinden.

Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) benennt konkrete psychische Belastungen und Prozessschritte, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden sollen. Wie haben Sie diese in Ihrem Tool integriert?

Wir haben uns eng an den Vorgaben der GDA orientiert – das reicht von den empfohlenen Prozessschritten bis hin zur Auswahl und Benennung unserer Skalen. In der Grobanalyse sind darüber hinaus die fünf Belastungsgruppen integriert, die durch die GDA vorgegeben werden: Arbeitsorganisation, Arbeitsinhalte, Arbeitsumgebung, Soziale Beziehungen sowie neue Arbeitsformen. Bei der sich anschließenden Feinanalyse handelt es sich um eine Adaption der ‚kommmitmensch-Dialoge‘ aus der Kampagne der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Diese sind ein dialogbasiertes, spielerisches Tool zur Förderung der Präventionskultur, das vom OHS-Survey identifizierte Belastungsbereiche aufgreift.


Bild: Wolfgang Bellwinkel

Wie setzen Sie die kommmitmensch-Dialoge konkret ein?

Als mir Anfang des Jahres 2019 das erste Mal die kommmitmensch-Dialog-Box in die Hände fiel, dachte ich sofort: ‚Das ist das richtige Instrument für unsere Feinanalyse!‘ Im Rahmen eines Forschungsprojekts haben wir die Dialoge thematisch angepasst und erfolgreich evaluiert. Im Verlauf unseres ebenfalls dialogbasierten Spiels erarbeitet die Workshop-Gruppe ein gemeinsames Verständnis zum Status Quo der eigenen Präventionskultur. Anschließend werden konkrete Beispiele aus dem Arbeitsalltag gesammelt und erste Vorschläge für Maßnahmen aufgeschrieben. Eine paritätisch besetzte Kommission bündelt diese und schnürt konkrete Maßnahmenpakete. Erfolgsgaranten sind aus meiner Sicht eine offene Gesprächs- und Fehlerkultur, partizipatives Vorgehen und eine klare Rollendefinition der Führungskraft im Gesamtprozess.

Wie kommt der spielerische Ansatz an?

Sehr gut! Die Teilnehmenden waren überaus engagiert. Alle erfüllten eine bestimmte Rolle: Zeit messen, Zwischenergebnisse protokollieren etc. Ich habe die Einhaltung der Zeitvorgaben pro Spielrunde überwacht, was den spielerischen Charakter der Methodik noch unterstützte. Die sonst meist ernsten Themen Sicherheit und Gesundheit wurden mit viel Spaß produktiv bearbeitet. Im ersten Pilotprojekt haben wir vier halbtägige Feinanalyse-Workshops durchgeführt, in denen 39 Vorschläge für Maßnahmen erarbeitet wurden. Anschließend wurden diese zu 17 Maßnahmenpaketen zusammengefasst.

Wie könnte man Unternehmen dazu motivieren, sich dem Thema psychische Belastungen stärker anzunehmen?

Unser OHS-Dialog findet auf ‚Augenhöhe‘ statt. Nach unserem Verständnis sind die Beschäftigten Experten für ihre eigene Arbeit – deshalb müssen wir die richtigen Fragen stellen und gut zuhören. Und dann vor allem schnell in die Umsetzung kommen. All das erhöht die Akzeptanz des Vorgehens bei den Beschäftigten und hat positive Auswirkungen auf die Gesundheit, Anwesenheit und viele Dinge mehr. Wir wissen, dass die psychische Gesundheit für jeden Einzelnen Lebensqualität bedeutet und für das Unternehmen eine sichere Bank für motivierte Beschäftigte, Produktivität und Qualität darstellt.