„Arbeitsschutz ist Grundlage für eine starke europäische Wirtschaft“
Die gesetzliche Unfallversicherung liegt in nationaler Verantwortung – doch auch Brüssel gestaltet ihre Rahmenbedingungen mit. DGUV Kompakt sprach mit Ilka Wölfle, Direktorin der Deutschen Sozialversicherung Europavertretung über die zukunftsfähige Gestaltung des Arbeitsschutzes.

Frau Wölfle, die EU hat im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik begrenzte Kompetenzen. Warum ist es dennoch wichtig, sich zu engagieren?
Zwar liegt die Verantwortung für die soziale Sicherung, einschließlich der gesetzlichen Unfallversicherung, bei den Mitgliedstaaten, doch der Einfluss der EU ist nicht zu unterschätzen. Angesichts des wachsenden Fokus auf Wirtschaft und Sicherheit müssen wir soziale Anliegen gezielter in den politischen Diskurs einbringen. Dies geht über die EU-Richtlinien hinaus, die verbindliche Mindeststandards setzen, um Beschäftigte zu schützen und faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. So betreffen z. B. die Diskussionen zu neuen Arbeitsformen wie Homeoffice, Plattformarbeit oder dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz am Arbeitsplatz nicht nur die Sozialpolitik. Auch wenn die EU keine umfassende Gesetzgebungskompetenz hat, prägt sie zunehmend die Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten. Gerade jetzt ist es entscheidend, Arbeitsschutz als Grundlage für eine starke europäische Wirtschaft zu begreifen, nicht als Belastung.
Lässt sich der Einfluss beziffern?
Die oft zitierte Aussage, 80 Prozent der nationalen Gesetze kämen aus Brüssel, trifft auf unseren Bereich so natürlich nicht zu. Die gesetzliche Unfallversicherung wird vor allem durch nationale Initiativen geprägt. In den Bereichen Umwelt, Landwirtschaft und Wirtschaft ist der EU-Einfluss spürbar stärker. Dennoch wächst der Anteil an EU-Regelungen, die unsere Arbeit betreffen.
Welche konkreten Herausforderungen sehen Sie aktuell auf europäischer Ebene im Bereich des Arbeitsschutzes?
Derzeit beobachten wir eine gewisse Zurückhaltung bei den klassischen Arbeitsschutzthemen. Wichtige Überarbeitungen – wie die der Richtlinien zu Arbeitsstätten oder Bildschirmarbeitsgeräten – verzögern sich, ebenso wie die angekündigte sechste Änderung der Richtlinie zu karzinogenen, mutagenen und reproduktionstoxischen Stoffen. Auch zentrale Konsultationen, etwa zum Recht auf Nichterreichbarkeit und Telearbeit, kommen kaum voran. Das ist besonders bedauerlich, da wir gerade in Zeiten tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt dringend klare und zeitgemäße Regelungen benötigen. Zurücklehnen dürfen wir uns nicht – ganz im Gegenteil. Wir brauchen einen Perspektivwechsel. Denn viele der Vorschriften, die unsere Arbeit beeinflussen, kommen aus unterschiedlichsten Politikfeldern – etwa aus der Chemikalienpolitik mit der Überarbeitung der REACH-Verordnung, dem Datenschutz oder dem Vergaberecht.
ZITAT
Doch in Zeiten, in denen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung und Deregulierung im Zentrum politischer Diskussionen stehen, müssen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz einen hohen Stellenwert behalten.
Welche strategischen Schritte sind notwendig, um die Interessen der gesetzlichen Unfallversicherung auf EU-Ebene besser zu vertreten?
Wir sind in Brüssel bereits präsent – und das mit klarer Stimme. Doch Sichtbarkeit allein reicht nicht: Wir gestalten aktiv mit. Ob in europapolitischen Debatten oder Gesetzgebungsprozessen, wir bringen die Perspektive der gesetzlichen Unfallversicherung frühzeitig ein. Dabei ist uns eines besonders wichtig: Europa und nationale Politik dürfen keine Parallelwelten sein. Was in Brüssel entschieden wird, muss in Berlin umgesetzt werden. Es geht nur Hand in Hand. Eine frühzeitige Abstimmung ermöglicht es, Entwicklungen vorausschauend zu begleiten und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Zudem stärkt eine gute Vernetzung der nationalen und europäischen Politik den Einfluss auf europäische Entscheidungen – oft haben Mitgliedstaaten mehr Gestaltungsspielraum, als es scheint. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ganz klare wirtschaftliche Prioritäten gesetzt. Doch in Zeiten, in denen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung und Deregulierung im Zentrum politischer Diskussionen stehen, müssen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz einen hohen Stellenwert behalten.
Welche Chancen sehen Sie in der Digitalisierung für den Arbeitsschutz auf europäischer Ebene?
Die Digitalisierung bietet enormes Potenzial, um den Arbeitsschutz zu stärken. Intelligente Technologien helfen, Risiken frühzeitig zu erkennen und Arbeitsplätze sicherer zu gestalten. Doch wir dürfen die Kehrseite nicht ausblenden: Neue Technologien bringen auch Herausforderungen mit sich. Es braucht moderne Regulierungsansätze, die Innovation ermöglichen und Schutz gewährleisten. Wenn es gelingt, Digitalisierung und Arbeitsschutz strategisch zu verbinden, kann das ein echter Wettbewerbsvorteil für Unternehmen in Europa sein.
GUT ZU WISSEN
EU-Arbeitsprogramm 2025
Die Europäische Kommission hat in ihrem Arbeitsprogramm für 2025 unter dem Schwerpunkt „Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ die Modernisierung der Sozialpolitik angekündigt. Dazu gehört auch ein neuer Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte, der Themen wie lebenslanges Lernen, Digitalisierung und faire Arbeitsbedingungen adressiert.
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