"Es geht uns darum, Veränderungsprozesse zu initiieren."

DGUV Kompakt-Interview mit Dr. Annette Niederfranke, Leiterin der Repräsentanz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Deutschland

Dr. Annette Niederfranke

Dr. Annette Niederfranke sieht die Anerkennung von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit im Rang von Menschenrechten als Stärkung aller ILO-Grundprinzipien.
Bild: privat

Die vier grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit wurden um ein fünftes ergänzt – eine sichere und gesunde Arbeitsumgebung. Damit sind alle ILO-Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, auf sichere und gesunde Arbeit zu achten und diese zu fördern. DGUV Kompakt sprach über diese Entscheidung mit Dr. Annette Niederfranke, Leiterin der Repräsentanz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Deutschland.

Frau Dr. Niederfranke, wie ist die Entscheidung einzuordnen, Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit als fünftes Grundprinzip der ILO aufzunehmen?

Das ist eine wegweisende Entscheidung der 187 ILO-Mitgliedstaaten. Denn sie kommt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unmittelbar zugute. Die grundlegenden Rechte und Pflichten bei der Arbeit haben eine herausgehobene Stellung – und nun gehört auch Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit dazu. Das Besondere: Sie stehen im Rang von Menschenrechten und haben universelle Gültigkeit. Sie gelten somit auch, wenn Staaten diese Übereinkommen nicht ratifizieren. Alle Mitgliedstaaten müssen regelmäßig darüber Rechenschaft ablegen, wie die konkrete Umsetzung erfolgt. In diesen Prozess können sich die Sozialpartner der Mitgliedstaaten einbringen und die Implementierung kommentieren und rügen.

Warum hat die ILO sich erst jetzt zu diesem Schritt entschlossen?

Es gab lange Zeit keinen Konsens darüber, wie das fünfte Grundprinzip ausgestaltet sein sollte, also welche ILO-Arbeits- und Sozialstandards hinterlegt werden. Dies ist jetzt entschieden. Ich bin davon überzeugt, dass die COVID-19-Pandemie diese Entscheidung beschleunigt hat. Denn es wurde deutlich, wie wichtig Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit für den Einzelnen, für Unternehmen und für die Gesamtwirtschaft sind. Dass eine stärkere Gewichtung von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit national und global wichtig sind, zeigen auch gemeinsame Schätzungen von WHO und ILO. Sie gehen davon aus, dass arbeitsbedingte Krankheiten und Verletzungen im Jahr 2016 für den Tod von 1,9 Millionen Menschen verantwortlich waren. Dazu kommt eine große Anzahl an Menschen, die sich am Arbeitsplatz verletzen oder krank werden und so teilweise langfristig Einkommensausfälle erleiden – ein Armutsrisiko.

War das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsplätze früher nicht wichtig genug?

Nein, das war es auf keinen Fall. Es ist ein großer Arbeitsschwerpunkt der ILO in den Mitgliedsländern und der Entwicklungszusammenarbeit. Nichtsdestotrotz braucht es für solche weitreichenden Entscheidungen den Konsens aller Parteien in der ILO: von Regierungen und den Vertretungen der Sozialpartner. Wie so oft gibt es einen Konsens nicht über Nacht. Es braucht Zeit oder einen Anlass wie die Pandemie, um ein Umdenken einzuleiten. Gleichzeitig ist die Implementierung von internationalen Übereinkommen für Regierungen auch eine Herausforderung: Man überprüft sein nationales Regelwerk, ob es den ILO-Standards genügt. Wenn dies nicht der Fall ist, muss nachjustiert werden. Dies hat wiederum Konsequenzen für alle, die an diese geänderten Rechtsvorschriften gebunden sind. Daher wägen Regierungen und Sozialpartner immer wieder Kosten und Nutzen ab. Die Pandemie hat den Nutzen für das fünfte grundlegende Prinzip unterstrichen.

Was sagt die Ergänzung über den Stellenwert der anderen vier Grundprinzipien aus?

Ich sehe die Anerkennung von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit im Rang von Menschenrechten als Stärkung der Grundprinzipien. Sie sendet das Signal, dass wir genau hinschauen und konkrete globale Entwicklungen aufgreifen. Dies geht nicht zu Lasten der bereits vorhandenen Grundprinzipien. Im Gegenteil, wir schärfen nach, um Lücken zu beseitigen und Arbeitsrechte zu stärken.

Welche konkreten Auswirkungen sind nun zu erwarten?

Regierungen müssen in regelmäßigen Abständen Rechenschaft darüber ablegen, was sie tun, um Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewährleisten. Das schafft Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, auch für Verstöße. Dadurch entsteht ein Dialog, der zu Veränderungen führen kann. Nehmen wir zum Beispiel Katar: Das Land wurde 2014 von der ILO gerügt, das Verbot zur Abschaffung von Zwangsarbeit nicht effektiv umzusetzen. Im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft wurde vor allem das Kafala-System kritisiert, da es Migrantinnen und Migranten nicht erlaubte, den Arbeitsplatz zu wechseln oder gar auszureisen. Nach dieser Rüge kam es zu einem Dialog mit der Regierung über mögliche Gesetzesänderungen. Seit 2021 dürfen nun Migrantinnen und Migranten den Arbeitsplatz wechseln und das Land auf Wunsch verlassen.

Das zeigt: Es geht uns darum, Veränderungsprozesse zu initiieren. Darum, Kritik zu üben und Hilfe und Unterstützung anzubieten. Mit dem Ziel, vollumfänglichen Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit für alle zu gewährleisten. Dieses Menschenrecht wird angesichts des Klimawandels weiter an Bedeutung gewinnen. Extreme Hitze und Kälte wirken sich negativ auf das physische Wohlbefinden aus und können tödlich sein. Der richtige Schutz am Arbeitsplatz ist zentral – dies erkennen wir nun mit der Aufwertung des Arbeitsschutzes in den Rang von Menschenrechten an.


Die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit beinhalten:

  • Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit,
  • das Verbot von Kinderarbeit,
  • das Verbot von Zwangsarbeit,
  • das Recht auf Kollektivverhandlungen und Tarifautonomie sowie
  • das Verbot der Diskriminierung am Arbeitsplatz, einschließlich der Entgeltgleichheit.
Die Internationale Arbeitsorganisation ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen und damit beauftragt, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern.
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