Beschwerdenvalidierung in der Begutachtung psychischer Störungen - Prävalenz von Antwortverzerrungen und Validierung einer deutschen Version des Structured Interview of Reported Symptoms (SIRS)

Projekt-Nr. FF-FR 0223

Status:

abgeschlossen 08/2016

Zielsetzung:

  • Analyse einer bereits erstellten Gutachtenpopulation nach der Häufigkeit eingeschätzter nicht-authentischer Beschwerden und deren zugrundeliegenden Kriterien in einem ersten Teilprojekt.
  • Ermittlung einer relevanten Häufigkeit und Aussagekraft der wissenschaftlich empfohlenen Indikatoren. Die in Deutschland bisher einsetzbaren Beschwerdenvalidierungstests (BVT) speziell für den Bereich psychischer Störungen entsprechen nicht den wissenschaftlichen Möglichkeiten und Anforderungen (insbes. hohe Spezifität).
  • Validierung des SIRS in einer deutschen Version und Überprüfung auf Praxistauglichkeit in einem zweiten Teilprojekt.
  • Vergleich der Klassifikationsgüte des SIRS mit der von herkömmlichen BVT, um eine differenziertere Einschätzung bzw. Gewichtung der Verfahren zu ermöglichen.

Aktivitäten/Methoden:

Eine deutsche "forward-backward" Übersetzung des SIRS wurde erstellt und auf ihre Verständlichkeit an ausgesuchten Testpersonen überprüft. Zur Prüfung der Anwendbarkeit erfolgte im Experiment eine Stichprobenuntersuchung an Personen (n = 100) mit gesicherten psychischen Erkrankungen mit einem sog. "Simulationsdesign". Zusätzlich zum SIRS wurden herkömmliche Beschwerdenvalidierungsverfahren (SFSS, WMT) durchgeführt, um deren konvergierende und diskriminante Anteile zu prüfen. Zusätzlich erfolgte eine retrospektive Auswertung des Gutachtenpools seit 2002 (bis 2013, ca. n = 1000). Hier wurden Häufigkeit und zugrunde liegende Kriterien der Einschätzung nicht-authentischer Beschwerden erfasst und bewertet.

Ergebnisse:

In Teilprojekt 1 zeigt die retrospektive Untersuchung eines Gutachtenpools (n = 1175) im Verlauf von 16 Jahren einen steigenden Aufwand zur Erstellung psychologischer Gutachten mit zunehmender Gutachtenlänge und -komplexität. Mit komplexer werdender Methodik werden häufiger Inkonsistenzen aufgeführt und eine höhere Rate verfälschter Beschwerdendarstellung festgestellt. Ein einheitliches und multimethodales Vorgehen gewährleistet, dass kein Bias-Effekt in der Beurteilung dieses Aspektes über verschiedene Gutachter hinweg entsteht. Entsprechend vorhandener Schätzungen in der Literatur finden sich im untersuchten Gutachtenpool häufig einzelne Inkonsistenzen (40,9 %). Diese sind jedoch nicht gleichzusetzen mit Aggravation oder Simulation, es bedarf einer weiteren Gewichtung und Interpretation der Inkonsistenzen. Die hieraus eruierte Rate einer insgesamt eingeschränkten Beschwerdenvalidität von 15,8 % entspricht aktuellen Reviews, die im Vorfeld deutlich höher eingeschätzte Raten kritisch hinterfragen. Es liegt damit erstmals eine Schätzung der Basisrate von Verfälschungen im Begutachtungskontext für die UV-Träger vor, die über einzelne Indikatoren oder Testwerte hinausgeht. Beschwerdenvalidierungsverfahren (BVT) werden als bedeutende Entscheidungsquelle von psychologischen Gutachtern als Indikator für Verfälschungen (in 79,6 % der Fälle) genutzt. Für die Gesamtentscheidung werden jedoch zusätzlich weitere Inkonsistenzen berücksichtigt. Antwortverzerrungen in herkömmlichen BVT finden sich häufig (47,2 %). Insgesamt besteht jedoch selten das Ausmaß einer bewussten, zielgerichteten Manipulation (8,2 %).

In Teilprojekt 2 wurde eine deutsche Version des SIRS-2 an einer Stichprobe im berufsgenossenschaftlichen Behandlungskontext (n = 92) validiert. Es wurde damit erstmals deutschsprachig ein BVT überprüft, das als standardisiertes vollstrukturiertes Interview konzipiert ist und eine spezifische Analyse des Antwortverhaltens erlaubt. Trotz der Besonderheiten der psychologischen Begutachtungspopulation für die UV-Träger (hohe Rate somatischer Komorbiditäten) zeigt das Verfahren im durchgeführten Simulationsdesign hohe Effektstärken zur Differenzierung authentischen und verfälschten Antwortverhaltens (dgemittelt = 2.36), eine hohe Interrater-Reliabilität (rgemittelt = .99) und Stabilität der Klassifikationen im Retest (mittlere Konkordanz 96,4 %). Für die Praxis können eine Sensitivität von bis zu 93,2 % und eine Spezifität von bis zu 97,9 % angenommen werden. Das Verfahren ist in der untersuchten Stichprobe bisher eingesetzten, als spezifisch geltenden Tests (WMT) überlegen. Hervorzuheben ist die minimale falsch-positiv-Rate in der untersuchten Stichprobe bei der Beurteilung durch das SIRS-2 von 1%. Aufgrund seines Aufwandes ist die Kombination mit einem vorgeschalteten Screeningverfahren (z.B. SFSS) zu empfehlen. Ein nächster Schritt ist die Publikation in einem Testverlag, um das Verfahren für die Anwenderpraxis zur Verfügung zu stellen und an realen Begutachtungspopulationen überprüfen zu können. Die Diagnostikstandards werden hinsichtlich eines zentralen Aspektes der Begutachtung optimiert.

Stand:

21.06.2017

Projekt

Gefördert durch:
  • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV)
Projektdurchführung:
  • BG Kliniken Halle
Branche(n):

-branchenübergreifend-

Gefährdungsart(en):

-Verschiedenes-

Schlagworte:

Rehabilitation

Weitere Schlagworte zum Projekt:

Beschwerdenvalidierung, Begutachtung psychischer Störungen, Prävalenz von Antwortverzerrungen, Structured Interview of Reported Symptoms (SIRS)