Aktualisierung der Königsteiner Empfehlung: Anpassung der Bewertung der arbeitsbedingten Schwerhörigkeit an die Bedeutung des Gehörs in der Arbeitswelt

Die Empfehlung der gesetzlichen Unfallversicherung zur Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit wurde überarbeitet. Der Beitrag stellt die Änderungen der sechsten Auflage vor.

Die DGUV hat in den vergangenen Jahren verschiedene Begutachtungsempfehlungen zu Berufskrankheiten neu erstellt oder überarbeitet. Diese Begutachtungsempfehlungen richten sich in erster Linie an ärztliche Sachverständige und bieten diesen eine aktuelle, wissenschaftlich gesicherte Grundlage zu berufskrankheitsspezifischen und unfallversicherungsrechtlichen Fragestellungen, auf deren Basis eine einzelfallgerechte Entscheidung über eine Berufskrankheit getroffen werden kann. Zudem stellen sie für die Unfallversicherungsträger, die Sozialgerichtsbarkeit und nicht zuletzt die Betroffenen eine wichtige Informationsquelle dar, die auch die Begutachtung im Berufskrankheitenverfahren transparent macht.

Die „Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit“ – auch Königsteiner Empfehlung genannt – war die erste Begutachtungsempfehlung der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie gilt seit mehr als 40 Jahren als Grundlage für eine gleiche, gerechte Begutachtung und Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei arbeitsbedingter Schädigung des Gehörs. Im Jahr 1974 erschien die erste Auflage dieser Empfehlung, die seither mehrfach aktualisiert wurde.

Die letzte Fassung der Königsteiner Empfehlung stammte aus dem Jahr 2012. Seither hat sich der medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand weiterentwickelt und es haben sich Neuerungen in der Rechtsprechung ergeben. Eine Abfrage bei Unfallversicherungsträgern und zuständigen Fachgesellschaften zeigte ebenfalls, dass diese Empfehlung aktualisiert werden musste.

Auch bei der jetzt fünften Überarbeitung wurden die „Grundsätze der DGUV für Empfehlungen zur Begutachtung bei Berufskrankheiten“ zugrunde gelegt (Brandenburg et al. 2009), die eine Selbstverpflichtung zur Erstellung von Begutachtungsempfehlungen darstellen. Mitte 2016 initiierte daher die DGUV einen Prozess, um die Königsteiner Empfehlung zu überarbeiten. Hierfür setzte die DGUV einen interdisziplinären Arbeitskreis ein, an dem medizinische Fachgesellschaften und Berufsverbände sowie Unfallversicherungsträger und deren Spitzenverbände, Institute und Kliniken sowie die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) beteiligt waren (siehe Infokasten).

Am 26. Juni 2019 wurde der innerhalb des Arbeitskreises abgestimmte Entwurf im Unfallkrankenhaus Berlin (ukb) einer erweiterten Fachöffentlichkeit vorgestellt und mit dieser diskutiert. Im Wesentlichen stieß der Entwurf bei den rund 110 Teilnehmenden auf positive Resonanz. Die Veranstaltung zeigte jedoch, dass an einigen Stellen noch Ergänzungen oder Änderungen notwendig waren.

Der „Arbeitskreis Königsteiner Empfehlung“ hat sich mit den Ergebnissen der Fachveranstaltung befasst und die Empfehlung an einigen Stellen entsprechend überarbeitet. Die Vorstände und Gremien der beteiligten Fachgesellschaften und Institutionen haben ihre Zustimmung zur Neufassung der Königsteiner Empfehlung gegeben.

Seit Oktober 2020 steht die Empfehlung zum Download zur Verfügung. Die gedruckte Version kann ebenfalls über diese Internetseite bezogen werden. Die Änderungen und deren Anwendung treten mit Veröffentlichung der neuen Königsteiner Empfehlung in Kraft.

Wesentliche Punkte der Überarbeitung

Im Folgenden werden die wichtigsten Änderungen der nun vorliegenden sechsten Auflage erläutert.

Bereits bei der vorherigen Überarbeitung war sich der Arbeitskreis einig, dass die Bewertung der arbeitsbedingten Schwerhörigkeit künftig der Bedeutung des Gehörs in der Arbeitswelt weiter angepasst werden muss; dies gilt insbesondere für die beginnende Schwerhörigkeit. Daher wurden nun die modifizierten Hörverlusttabellen von Boenninghaus und Röser 1973 (Tabelle 1 der Königsteiner Empfehlung) und Röser 1980 (Tabelle 2 der Königsteiner Empfehlung) übernommen (Feldmann und Brusis 2019). Durch die Modifikation der Tabelle 1 ist die Berechnung des gewichteten Gesamtwortverstehens nicht mehr erforderlich, da der Vorteil des gewichteten Gesamtwortverstehens durch eine teilweise Erhöhung der prozentualen Hörverluste in der geänderten Tabelle berücksichtigt wurde. Für die Ermittlung des prozentualen Hörverlustes aus dem Tonaudiogramm (Hörverlusttabelle von Röser 1980) werden in Tabelle 2 nunmehr neben den Hörwerten bei 1 und 2 kHz die Befunde bei 3 oder 4 kHz berücksichtigt. Ist der Hörverlust bei 4 kHz größer als bei 3 kHz ist dieser der Hörverlustberechnung zugrunde zu legen, anderenfalls der Wert bei 3 kHz. Zudem wurden die Hörverlustwerte im unteren Bereich etwas angehoben.

Nach Abschnitt 2.3 der Königsteiner Empfehlung wird die Lärmexposition für das gesamte Arbeitsleben durch die Berechnung der Effektiven Lärmdosis (ELD) dargestellt. Da der Ermittlungsaufwand vor allem für lange zurückliegende Beschäftigungszeiten erheblich ist, wurde vereinbart, die Beschäftigungsabschnitte und Tageslärmexpositionspegel regelmäßig (nur) für die vergangenen drei Jahrzehnte, frühestens ab dem Jahr 1990 zu ermitteln (siehe Abschnitt 2.6 der Königsteiner Empfehlung). Im Einzelfall sind auf Anforderung Feststellungen zu Zeiten davor zu treffen.

Eine Reihe anderer in der Begutachtungspraxis relevanter Punkte blieb gegenüber der vorherigen Auflage der Königsteiner Empfehlung aus dem Jahr 2012 unverändert. So ist beispielsweise beim Vorliegen von Ohrgeräuschen – wie bisher – eine gezielte Tinnitusdiagnostik mit Frequenzanalyse und Verdeckungsmessungen erforderlich. Der Begleit-Tinnitus einer Lärmschwerhörigkeit kann unter bestimmten Voraussetzungen unverändert mit einer MdE von bis zu zehn Prozent integrierend bewertet werden. Eine neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung sollte nur beim Vorliegen schwerster Beeinträchtigungen (Grad 4 der Tinnitus-Leitlinie) erfolgen.

Aus der Überarbeitung der Königsteiner Empfehlung ergab sich zudem die Notwendigkeit, den Gutachtenauftrag A 8200-2301 sowie das für die Sachbearbeitung relevante „Stufenverfahren BK 2301 (Lärm)“ geringfügig zu aktualisieren.

Ausblick

Die Überarbeitung der Königsteiner Empfehlung hat potenzielle Handlungsfelder für die zukünftige Arbeit aufgezeigt. So war sich der mit der Überarbeitung betraute Arbeitskreis einig, dass

  • die Bedeutung der Kombinationswirkung von Lärm mit ototoxischen Arbeitsstoffen auch in Zukunft weiter zu beobachten ist und
  • zukünftig fundiert darüber diskutiert werden sollte, wie Audiometrieverfahren mit Störgeräuschen eingesetzt werden können, wenn für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit validierte Forschungsergebnisse vorliegen.

Um die Umsetzung effektiv zu unterstützen, müssen die in der Königsteiner Empfehlung enthaltenen Neuerungen auch in die Praxis getragen werden. So werden die neuen Inhalte beispielsweise in Seminaren der Hochschule der DGUV (HGU) der Sachbearbeitung der Unfallversicherungsträger vermittelt. Ebenso wichtig ist die Schulung der gutachterlich tätigen Ärztinnen und Ärzte. Geplant ist daher auch, die Neuerungen in entsprechenden Veranstaltungen bekannt zu geben.

Neben diesem Beitrag sind weitere Publikationen geplant, in denen die Neuerungen der Königsteiner Empfehlung vorgestellt und erläutert werden. So soll beispielsweise eine Publikation in der Rubrik „Aus der Gutachtenpraxis“ der deutschsprachigen Fachzeitschrift „Laryngo-Rhino-Otologie“ erfolgen.

Für die Überprüfung und gegebenenfalls anschließend notwendige Überarbeitung der Königsteiner Empfehlung ist – wie auch bei anderen Begutachtungsempfehlungen – ein Fünfjahresrhythmus vorgesehen. Sollte sich bereits vorher eine wesentliche Änderung des wissenschaftlich-medizinischen Kenntnisstandes ergeben, kann die Überarbeitung auch vorgezogen werden. Bis dahin ist jedoch die derzeitige sechste Auflage der Königsteiner Empfehlung gültig.

Interdisziplinärer Arbeitskreis zur Entwicklung der „Empfehlung für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) – Königsteiner Empfehlung –“

Wissenschaftliche Leitung

Prof. Dr. Tilman Brusis, Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (DGHNO-KHC)

Medizinische Fachgesellschaften und Berufsverbände

  • Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM)
  • Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (DGHNO-KHC)
  • Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte e. V. (BV HNO)
  • Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW)
  • Vereinigung Deutscher Staatlicher Gewerbeärzte e. V. (VDSG)

Unfallversicherungsträger und deren Spitzenverbände, Institute und Kliniken

  • Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU)
  • Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM)
  • Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM)
  • Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)
  • Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation (BG Verkehr)
  • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV)
  • Spitzenverband der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (SVLFG)
  • Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA)
  • Unfallkrankenhaus Berlin (ukb), Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde

Weitere Institutionen

  • Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)